Thomas Markwig | Singularitätentheorie |
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Wie das tägliche Leben lehrt, geht in der Regel alles glatt,
abgesehen von den berühmten Ausnahmen von der Regel.
Diesen Lebensweisheiten liegt tatsächlich eine tiefe Wahrheit
zugrunde: die Natur verhält sich fast immer vorhersehbar und
stabil, doch hin und wieder überrascht sie uns. Es sind
gerade diese ,,Überraschungen``, wie z.B. Unwetter und
Naturkatastrophen, die große Auswirkungen auf unser Leben haben.
Somit ist es nicht verwunderlich, dass auch bei der wissenschaftlichen Naturbeschreibung Instabilitätsphänomene im Zentrum des Interesses stehen. Instabile oder nicht glatte Stellen werden meist als Singularitäten bezeichnet und sind Gegenstand einer systematischen Untersuchung im Rahmen der jeweiligen Singularitätentheorie. Die Relevanz von Singularitäten erstreckt sich über viele Gebiete der Mathematik und Naturwissenschaften. Zu den prominenten Vertretern zählen die Chaostheorie, Katastrophentheorie, Meteorologie, Astronomie und Relativitätstheorie. Doch schon beim morgentlichen Kaffeetrinken findet der aufmerksame Frühstücker die Spielereien der Natur: Das in die Kaffeetasse einfallende Sonnenlicht bricht sich zu einer singulären Kurve, d.h. einer Kurve mit einer Spitze.
Eine solche Kurve läßt sich mit geringem Schulwissen mathematisch beschreiben. Der im Volksmund viel zitierte Satz des Pythagoras besagt, dass die Punkte (x,y) in der Ebene, die die Gleichung x2+y2=1 erfüllen, auf einem Kreis mit Radius 1 um den Nullpunkt liegen.
Dieses Wechselspiel zwischen Gleichungen und geometrischen Objekten ist der Kern der Algebraischen Geometrie. Ein Kreis ist offensichtlich glatt, d.h. er hat keine Spitzen oder Ecken. Die Punkte, die die Gleichung x2=y3 erfüllen, sind gerade die Punkte auf der folgenden, dem aufmerksam frühstückenden Leser, wohlbekannten Kurve!
Im Gegensatz zum Kreis, ist diese Kurve nicht glatt, sie hat eine Spitze im Nullpunkt. Eine solche wird in der Algebraischen Geometrie als singulärer Punkt oder Singularität bezeichnet. Die Art dieser Singularität wird jedoch durch die Gleichung nur sehr unzureichend ausgedrückt. Eine andere Wahl des Koordinatensystems liefert eine andere Gleichung, die eigentlich die selbe Singularität im Nullpunkt beschreibt. Nur Experten werden in der Gleichung x2+2x3+2x2y+x4+2x3y+x2y2=y3+3xy3+3x2y3+x3y3 die ,,Kaffeetassensingularität`` erkennen. An diesem einfachen Beispiel wird schon ein grundlegendes Problem deutlich, das Problem der Klassifikation: Wann sind Singularitäten gleich und wie ist dies an den Gleichungen erkennbar? Wie oft in der Mathematik ist der Nachweis der Ungleichheit, wie z.B. der Nachweis der Nichtexistenz einer Koordinatentransformation, besonders schwierig. Ein wesentliches Hilfsmittel hierbei sind Invarianten, d.h. der Singularität zugeordnete Objekte, mit deren Hilfe sich diese unterscheiden lassen. Eine weitere naheliegende Frage ist: Wie verhalten sich Singularitäten bei kleinen Änderungen der definierenden Gleichungen? Aus dieser klassischen Fragestellung hat sich eine eigene Theorie, die sogenannte Deformationstheorie, entwickelt. Die moderne Deformationstheorie stellt wichtige Werkzeuge zur Untersuchung von Singularitäten zur Verfügung, die zur Lösung vieler klassischer Probleme geführt haben. Es bedarf jedoch nicht nur rein theoretischer Methoden zur Untersuchung von Singularitäten. An den oben erwähnten Gleichungen der ,,Kaffeetassensingularität`` wird deutlich, dass man es in vielen Fällen mit komplizierten Gleichungen zu tun hat. Mit fortschreitender Entwicklung der Computer, gewannen auch algorithmische Methoden zum Auffinden gewisser Strukturen in solch komplizierten Gleichungen an Bedeutung. Die Computeralgebra ist heute ein eigenständiges Forschungsgebiet, das sich mit derartigen algorithmischen Fragestellungen befasst. Wie auch in der Algebraischen Geometrie liegt in der Singularitätentheorie aller Erkenntis und Methodik das Wechselspiel zwischen geometrischer Intuition und abstraktem Formalismus zugrunde.
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Universität Kaiserslautern Fachbereich Mathematik Arbeitsgruppe Algebraische Geometrie |